Lichtenstein

Ist der, die oder das Tübinger Lichtenstein eine Verbindung?

Die (nächstes Jahr 100 Jahre alte) Villa einer ehemaligen (?) Verbindung: die Widersprüche zwischen dem grossen holzvertäfeltem Saal und dem alternativen Flair der kleinen hippiesk bunt gestrichenen Zimmern, zwischen Turmzimmerchen und chaotischer Küche, zusammen einkaufen, kochen… dem zweimal jährlich stattfindenden Konvent des Vereins und der berüchtigten Halloweenparty… spiegeln die wiedersprüchlichen Vorstellungen wieder, was das Lichtenstein eigentlich ist. Verbindung? Alternatives Wohnprojekt? Ein Verein aus ehemaligen HausbewohnerInnen (inklusive den Alten Herren von früher) subventioniert im Sinne eines Generationenvertrages das Haus und vermietet es an die jetzigen BewohnerInnen, wobei das Zusammenleben von den aktuellen BewohnerInnen selbstverwaltet organisiert wird. Und manche ehemaligen BewohnerInnen treten natürlich auch in den Verein ein, weil sie das Haus so wie es ist erhalten wollen. Letztlich wird dabei aber durch die Hintertür ein Haufen Verbindungs-Klimbim wieder hineingebracht, eine Nostalgie-Bubble für die Alten Herren, die sich z.T. vorgeben, ihre Verbindung sei zwar sehr sehr liberal aber immer noch existent. Die BewohnerInnen werden von den Alten „Aktivitas“ genannt, für den Konvent wird das Wappen im Saal aufgehängt und im Bundesblatt des Vereins die Tradition beschworen.

Zensur findet nicht statt! Doch wer einen solchen Text schreibt, wird aus dem Haus geworfen. Ich habe mit meinen Vorletzten Worten aus dem Tübinger Lichtenstein nochmal nachgelegt.

Die BewohnerInnen und jüngeren Vereinsmitglieder betonen hingegen die Brüche (über die unzählige z.T. widersprüchliche Geschichten kursieren), wehren sich gegen den Jargon wie „auf dem Haus“ und sehen das ganze eher als ungewöhnliches Wohnprojekt. Denn was hat das Leben hier im Haus noch mit Verbindungsunwesen zu tun? Nichts! Doch auch wenn sich vielleicht alle ein wenig selbst belügen, immer mal wieder Konflikte aufbrechen und wieder geschlichtet werden, scheint diese merkwürdige Symbiose zu funktionieren. Und so ist das Haus neben ein paar weiteren Alternativ-WG-Villen (die typtisch für Tübingen zu sein scheinen) und den eher klassischen Projekten wie Schelling ein Bestandteil des alternativen Lebens Tübingens. In einer skurilen Umgebung von immer noch aktiven Verbindungen, die Nachts mit farbigem Band, Kappe und Bierglas über den Österberg streichen und in ihren Garten kotzen, die z.T. auch fechten und…. kurz, ein „Haufen von verhetzten, irregeleiteten, mäßig gebildeten, versoffenen und farbentragenden jungen Deutschen!“ (Kurt Tucholsky)

Die Widersprüche scheinen sich durch die gesamte Geschichte des Hauses zu ziehen, wobei auch bei der „offiziellen Geschichtsschreibung“ Mythos und Realität nie ganz zu trennen sind. Gegründet 1873 von jungen Theologen des Evangelischen Stifts mit den Leitideen „Individualismus und süddeutscher Liberalismus statt Konformismus und preußischer Nationalismus“, geprägt vom bürgerlichen humboldtschen Bildungsideal, nannte man sich Gesellschaft, nicht Verbindung: „Was uns zusammengehalten hat, war die Liebe zur Solidarität und unsere Opposition gegen das Verbindungswesen“. Das änderte sich dann aber schnell, „Halbwichs“ und Mensur kamen schneller als das eigene Haus, das Duellverbot wurde aufgehoben und deutschnationale Ideen kamen auf. Nach dem ersten Weltkrieg kämpften Lichtensteiner in den studentischen Freikorps (Tübinger Waffenring) in Stuttgart gegen streikende Arbeiter und in München beim blutigen Schlag gegen die Räterepublik. Kein Wunder, dass schon 1932 die Mehrheit der Aktivitas im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund waren. Mitgliedschaft in SA oder Stahlhelm wurde bald obligatorisch. Im Zuge der Gleichschaltung wurde die Verbindung schließlich wie alle anderen Verbindungen vom NSDStB geschluckt, das Haus war nun „Kameradschaftsheim“.

Nachdem das Haus nach dem Krieg eine Zeit als Französisches Offizierskasino gedient hatte, ziehen wieder Burschen ein, zwar „Liberal“ und ohne Wichs oder Mensur, doch in den üblichen hierarchischen Formen unter strengem Reglement. Die Kämpfe der späten 60er Jahren lösten aber auch im Lichtenstein Diskussionen aus, der Zwang wurde wegen der akuten Nachwuchsprobleme mehr oder weniger abgeschafft. Verbindungen waren nun mal out… die Bewohner der 70er Jahre hätten lieber das Wort „Club“ statt „Verbindung“ und kämpften dafür, dass auch Frauen hier wohnen dürfen, was aber beides den Alten Herren mißfiel. Letztlich dürfen Frauen eintreten aber nicht im Haus wohnen, ein fauler Kompromiss, wegen dem sowohl viele Alte Herren als auch die komplette Bewohnerschaft austraten.
Der Neubeginn 1979 und die folgenden Jahre müssen ziemlich chaotisch gewesen sein, und das Flair änderte sich so schnell wie die BewoherInnen ein- und auszogen. Die neuen BewohnerInnen renovierten das komplette Haus selbst, man spielte Theater, engagierte sich in der Friedensbewegung und für Asyl, irgendwann wurden die eh schon im Haus wohnenden Frauen legalisiert… Die endgültige Selbstverwaltung der BewohnerInnen kam 1983: der bisherige Hausverwalter (der heute der Vorstand des Vereins ist) zog aus und ging nach Papua Neuguinea. Im grossen Saal wurden Transpis gemalt, alternative Kulturveranstaltungen organisiert, Studiproteste und Ökologie, Aufrüstung und Golfkrieg, gar Revolution….. Und immer wieder das Thema Verbindungen, die in Veranstaltungen kritisch unter die Lupe genommen wurden. Aus dieser Zeit stammen auch Erzählungen von Burschen, die ins Haus eindringen und randalieren.

Was also ist das Lichtenstein? Eine Alternativ-Verbindung? Ein generationsübergreifender Freundeskreis? Eine Gemeinschaft? Es gibt einfach keinen passenden Begriff, der nicht einer weiteren Erklärung bedürfte.